Tödlicher Fahrradunfall am Kaiser-Wilhelm-Platz

Der erste tödliche Fahrradunfall diesen Jahres passierte am 23. Januar 2018 am Kaiser-Wilhelm-Platz. Eine 52jährige Radfahrerin wollte am frühen Morgen von der Kolonnenstraße kommend nach links in die Hauptstraße abbiegen. Sie fuhr auf dem Fahrradstreifen, um die Hauptstraße zu überqueren. Ein LKW neben ihr nahm ihr die Vorfahrt und bog nach rechts ab. Eine klassische Gefahrensituation. Der LKW erfasste die Radfahrerin, die noch an der Unfallstelle an ihren schweren Verletzungen starb.

Die Straßenbreite reicht nicht aus für eine Fahrradspur und zwei Autospuren in der Kolonnenstraße Richtung Hauptstraße. Die Verkehrsteilnehmer*innen kommen sich schon aus Platzgründen in die Quere. Das Problem ist seit mindestens zehn Jahren bekannt. Auf Antrag der Grünen hatte die BVV im letzten Sommer, am 19. Juli 2017, dem Bezirksamt empfohlen, sich bei den zuständigen Stellen für eine zeitnahe Abhilfe einzusetzen. Beschlossen wurde ebenfalls: „Als kurzfristige Maßnahme zum Schutz des Radverkehrs soll die Fahrradspur zwischen Crelle- und Hauptstraße rot eingefärbt sowie das Fahrradpiktogramm erneuert werden.“

Für die Kolonnen- und Hauptstraße als Teile des übergeordneten Straßennetzes ist die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz zuständig. Vollmundig verkündet deren zentrale Straßenverkehrsbehörde „Verkehrslenkung Berlin“ (VLB) das Leitmotiv: "Sichere Mobilität in Berlin für alle Verkehrsteilnehmer". Mit ihrer Kampagne „Berlin nimmt Rücksicht“ klärt die Senatsverwaltung seit 2012 über klassische Gefahrensituationen auf. So sinnvoll dies einerseits ist, fügt es sich jedoch – wenn es dabei bleibt – in eine Politik neoliberaler Stadtgestaltung ein, wenn die Verantwortung für die Sicherheit im Straßenverkehr allein in die freiwillige Verantwortung der Verkehrsteilnehmer*innen gelegt wird.


400 Menschen fordern: Stop killing cyclists

Schon kurz nach dem Unfall hängten Nachbar*innen ein handgeschriebenes Schild mit dem Hashtag „# Stop killing cyclists“ an den Baum auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz, stellten Kerzen auf und legten Blumen dazu. Am Tag nach dem Unfall kam die zuständige Senatorin Regine Günther zu einem Vor-Ort-Termin. Der ebenfalls anwesende Leiter der VLB, Axel Koller, teilte mit, der BVV-Antrag sei erst im November 2017 bei ihm eingetroffen. Die als Sofortmaßnahme geforderte Einfärbung des Fahrradstreifens könne witterungsbedingt erst im Frühjahr erfolgen. Dann soll der Fahrradstreifen so verbreitert werden, dass es nur noch eine Autospur gibt. Senatorin Günther versprach, sich auf Bundesebene für Notbremssysteme an LKWs einzusetzen, und nach und nach besonders kritische Unfallschwerpunkte in Berlin zu entschärfen. Der Tagesspiegel berichtet dazu in seiner Online-Ausgabe vom gleichen Tag: „Die Schöneberger Unfallkreuzung, für viele im Kiez ein täglicher Graus, steht weit hinten auf der Brennpunktliste. Etwa auf Platz 600, sagt Jochen Schledz, der die Unfallkommission leitet. In absoluten Zahlen laut Polizei: 87 Verkehrsunfälle gab es in den vergangenen drei Jahren an dieser Kreuzung – und sechs verletzte Radfahrer. “

Ebenfalls am 24. Januar organisierte der „Allgemeine Deutsche Fahrradclub“ (adfc) gemeinsam mit dem Verein „Changing Cities“, der aus der Initiative des Volksentscheid Fahrrad hervorgegangen ist, eine Mahnwache auf der Kreuzung. Es kamen etwa 400 Nachbar*innen und Radfahrende aus der ganzen Stadt.

Behörden sollen Menschenleben schützen

Denis Petri, der politische Referent von „Changing Cities“ kritisierte: “Es ist ein Armutszeugnis der Verantwortlichen in der Politik, dass sie offenbar weiter gewillt sind, das stille Sterben auf den Straßen auch künftig zu akzeptieren. In Berlin wird die Vision Zero, die zum Ziel hat, schwere Personenschäden auf null zu bringen, zwar im Mobilitätsgesetz festgeschrieben, aber nicht mit konkreten Reduktionszielen unterlegt. Im Bund kuschen die künftigen Koalitionäre weiter vor der Autolobby.“ Er machte die behördliche Untätigkeit für den Tod der Radfahrerin verantwortlich und forderte: “Interessenabwägungen dürfen niemals zu Lasten von Menschenleben gehen!". Petri fragte, was wohl geschehen würde, wenn ein Flugzeug abstürzte, weil es ein halbes Jahr nicht gewartet wurde, oder wenn eine ungesicherte tonnenschwere Maschine in einer Fabrik Menschen unter sich begraben würde? Er betonte, dass er auch gegen seine eigene Angst anrede, selbst Opfer zu werden oder dies im Kreis seiner Angehörigen erleben zu müssen.

Für den adfc sprach der Sprecher der Stadtteilgruppe Schöneberg, Markus Kollar. Er betonte, dass der Radverkehr in der Stadt nur sicherer gemacht werden könne, wenn es weniger Platz für KFZ gäbe. Den Behörden warf er vor, dass sie die Priorität auf die Flüssigkeit des Autoverkehrs legen, was mit Menschenleben bezahlt würde. Er wies darauf hin, dass selbst Verbände von Spediteuren mittlerweile eine bessere technische Ausstattung befürworten würden, um solche Unfälle zu vermeiden. Ebenso wie „Changing Cities“ fordert auch der adfc zum Beispiel den verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenten in LKWs, die Radfahrende erkennen können und Warnsiglale geben.

Letztlich sind die LKW-Fahrer*innen ebenfalls Opfer, auch wenn sie als Stärkere solche Unfälle überleben. Neben der notwendigen technischen Ausstattung kämen auch bessere Arbeitsbedingungen mit garantierten Ruhezeiten und weniger Zeitdruck ihrer Aufmerksamkeit zugute, und könnten sie vor dem traumatisierenden Erlebnis, einen Menschen getötet zu haben, schützen. Grundsätzlichere Überlegungen zur Gestaltung einer menschen- statt autofreundlichen Stadt sind auch in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigen.

Ein „Geisterrad“ zur Erinnerung und Mahnung

Nach dreimaligem Fahrradklingeln setzten sich die Teilnehmenden der Mahnwache für einige Schweigeminuten auf den Boden. Der adfc stellte auf dem Mittelstreifen der Hauptstraße, direkt an der Unfallstelle, ein „Geisterrad“ auf: Ein weißes Rad, wie es zur Erinnerung und Mahnung an getötete Radfahrer*innen an vielen Stellen dieser Stadt zu finden ist.

Am Tag danach brennen noch einige Kerzen. Auf dem handgeschriebenen Schild „Stop killing cyclists“ hat jemand hinzugefügt: „Heute sind auch 1000 Kinder verhungert!“ Ich überquere die Hauptstraße zu Fuß, selbstverständlich bei grüner Ampel, ein aus der Kolonnenstraße rechtsabbiegender PKW hält auf mich zu, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern. Ob er rechtzeitig halten könnte, wenn ich stolpern würde? Ich lege einen Schritt zu, und frage mich, wie es wäre, wenn ich mal nicht mehr so gut zu Fuß bin und ob ich hier wirklich alt werden möchte.

Elisabeth Voß, Bürgerdeputierte (sachkundige Bürgerin) im Stadtentwicklungsausschuss (parteilos)
www.elisabeth-voss.de

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