Rede auf der Kundgebung der Partei DIE LINKE am 7. Mai 2021

Klaus Grammel, Evangelischer Pfarrer

vor dem Kiezbüro Harald Gindra, MdA

 

Liebe Freundinnen und Freunde

 

Als Ihr Marienfelder Mitbürger, denke ich, kann ich Sie so begrüßen. Vor 36 Jahren kam ich als evangelischer Pfarrer in die hiesige Kirchengemeinde. Ich spreche hier nicht im Auftrag der Kirche, sondern auf Einladung der Partei DIE LINKE in meinem eignen Namen. Ich freue mich über jeden, der die Dinge ähnlich sieht wie ich, auch in der Kirche.

 

Ich möchte Ihnen deutlich machen, warum der 8. Mai für mich ein Tag der Befreiung ist und was für mich daraus für heute folgt.

 

I

 

Ich beginne damit, dass ich Ihnen von Dr. Hans Pfeiffer erzähle. Er erschoss seine fünf Töchter, seinen Sohn, seine Ehefrau, die mit dem sieben Kind hoch-schwanger war, seine Mutter, seine Haushälterin, seine zahnärztliche Assistentin und schließlich sich selbst. Die schreckliche Tat geschah am 23. April 1945 in Lehnin, als die Rote Armee den Ort erreicht hatte.

Ähnliches passierte damals auch anderswo im Umland. Mütter ertränkten ihre Kinder und sich selbst, Großväter erwürgten ihre Enkel, Frauen und Männer nahmen Gift, erhängten oder erschossen sich. In der Kleinstadt Demmin in Mecklenburg waren es an die Tausend. Pfarrer Jakobi von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sprach damals von einer Selbstmordepidemie.

 

Um sich vor den Russen zu retten, brachte man sich um. Die Menschen konnten sich keine Befreiung von ihrem Wahn vorstellen, weil sie ihn gar nicht als Wahn erkannt hatten. Für sie gab es nur eines: Siegen oder Untergehen.

Soldaten auf Urlaub hatten es immer wieder angedeutet: wir müssen um jeden Preis den Krieg gewinnen. Sonst wird der Russe an uns alle grausamste Rache nehmen für das, was wir mit ihm und seiner Heimat angerichtet haben. Die NS-Propaganda schürte die Angst vor den kulturlosen slawischen Untermenschen. Eine Zeitzeugin: Wir dachten doch, die Russen, das sind irgendwie Ungeheuer, Tiere, jedenfalls keine Menschen.

 

Auf unsrem Marienfelder Friedhof arbeitete ein ukrainischer Zwangsarbeiter. Einer der deutschen Arbeitskollegen nahm ihn einmal mit zu sich nach Hause, was verboten war. Er wollte seiner Frau zeigen, dass der keine Hörner am Kopf hatte. Für sie waren das alles Russen und Russen waren alle Teufel.

 

In dem kleinen Heimatdorf meiner Mutter bei Neuruppin, wo wir während des Bombenkrieges lebten, erschoss sich ein Bauer, ein entfernter Verwandter von uns, mit seinen zwei Söhnen und seiner Frau. Der Dorfpfarrer hat es bezeugt. Meine Mutter und meine Tante jedoch waren felsenfest davon überzeugt, dass es die Russen waren. Die sind doch zu allem fähig.

 

Wer das geglaubt hatte und nun mitbekam, wie russische Soldaten plünderten und Frauen vergewaltigten, der sah sich bestätigt.

 

Ich war acht Jahre alt, als die Russen kamen, zu jung, um noch für Deutschland zu kämpfen und zu sterben, wie ich es mir in meiner Kinderfantasie ausgemalt hatte. Wir Kinder haben doch fast nur Soldat gespielt. Wir sind mit einem Stock über der Schulter im Gleichschritt die Dorfstraße entlang gezogen und haben gesungen: 

Für Hakenkreuz und Schwarz-weiß-rot

gehn wir mit Freuden in den Tod.

 

Von dieser durch und durch vergifteten Sicht auf uns selbst und auf andre Menschen und Völker sind wir durch die totale Niederlage des Dritten Reiches befreit worden.

 

Gott sei Dank! Wir alle!

Auch die Vergewaltigten! Auch schon die Kinder. Und all die vielen, die mitgelaufen waren, ob in der ersten Reihe oder mehr in den hinteren, auch wenn sie noch lange nach den 8. Mai nur von der Niederlage oder Kapitulation gesprochen haben. Ihre Befreiung war ihnen gar nicht offensichtlich, anders als den Verfolgten in den KZs, in den Gefängnissen und Lagern und denen, die versteckt im Untergrund lebten; für diese war sie unmittelbar, direkt erfahrbar.

Ich habe meine Befreiung von der ganzen Hitlerei auch erst begriffen, als ich in den Fünfziger-Jahren als Student Hitlers Mein Kampf gelesen habe. Und noch viel später, erst am 8. Mai 1985, hat unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker es endlich auch laut und deutlich ausgesprochen.

 

Damals hatte ich auch begriffen, dass wir uns nicht selbst befreit haben,

sondern befreit wurden. Will denn einer befreit werfen, der meint, dass es uns Deutschen doch gut gehen darf, weil wir mehr wert sind als die aus dem Osten, die man vernichten und ausplündern darf, und mehr als die Juden, die überhaupt kein Lebensrecht haben? Solange man in irgendeiner Weise von dem profitiert, was damals los war, solange will man aus diesem Wahn doch gar nicht erwachen! Wir mussten von Außen befreit werden, und noch einmal: Gott sei Dank, wurden wir es auch!

 

Unsre Befreier kamen mit dem Geist, in dem sie lebten. Auch mit so manchem Ungeist. Nicht nur die Russen!

 

Wie viel Wallstreet steckt in der amerikanischen Uniform, wie viel US-

Imperialismus? Wie viel Stalin steckt in der Russischen?

Aber das Wichtigste ist: sie haben gesiegt. Sie haben mich befreit.

Keine Frage, der Stalinismus warf einen tiefen Schatten auf unsre Befreiung. Dennoch gilt: es wäre furchtbar gewesen, für uns und für die Welt, hätte Hitlers Ungeist triumphiert.

 

Und es wäre auch furchtbar für uns geworden, wenn die Russen uns behandelt hätten wie wir sie behandelt hatten. Wir waren für sie keine Untermenschen.

Deutschland hat im Osten Sturm gesät hat, nein, einen Orkan, und es hat doch nur Wind geerntet; vor allem dank der Roten Armee, die sofort daran ging, das Nötigste für das Überleben der deutschen Bevölkerung zu sichern. Unvergessen der erste Stadtkommandant Nikolaj Bersarin!

Die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion richtete sich nach einer andren Devise: Etwa ein Drittel der Erträge aus der sowjetischen Erde geht an die deutsche Besatzungsarmee, ein weiteres Drittel geht in die Heimat; mit dem verbleiben-den letzten Drittel muss sich die ansässige Bevölkerung begnügen. O-Ton Her-mann Göring 1941:  In diesem Jahr werden in Russland zwischen 20 und 30 Millionen Menschen verhungern. Und vielleicht ist das gut so, denn gewisse Völker müssen dezimiert wer-den. Ebenso Heinrich Himmler 1941: Der

eigentliche Zweck des Russlandfeldzuges sei die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen.

 

II

 

Schauen wir, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.  Nur die Wahrheit wird uns frei machen, habe ich von der Bibel gelernt. An der Wahrheit vorbei gibt es keinen Weg nach vorne. Ohne den Willen zur Wahrheit bestimmt uns nur das, was uns von unsrer Geschichte her in den Knochen sitzt. Sätze wie:Dem Russen ist nie zu trauen! Der Russe ist unberechenbar! Der Russe ist doch zu allem fähig!

Also muss man ihn fürchten und versuchen, ihn in Schach zu halten. Dazu eignet sich sehr gut die NATO.

 - Sie wurde 1949 gegründet gegen die Sowjetunion und deren Verbündete. Die-se reagierte einige Jahre später mit der Gründung des Warschauer Pakts. Als die Sowjetunion zerfiel, wurde der Warschauer Pakt aufgelöst. Nicht aber die NA-TO! Warum eigentlich nicht? Die Sowjetunion gab es doch nicht mehr!Ist dem Westen womöglich nicht zu trauen?

 - Michael Gorbatschow hatte 1990 der Wiedervereinigung und sogar der NA-TO-Zugehörigkeit Deutschlands zugestimmt unter der Zusage des Westens, dass es keine Erweiterung des NATO-Gebietes nach Osten geben werde (So wörtlich der damalige deutsche Außenminister Genscher).

Die USA selbst gaben ihr Wort. Der amerikanische Botschafter in Moskau Jack Matlock gab zu Protokoll, dass Gorbatschow eine klare Zusage erhalten habe, dass sich die Grenzen der NATO bei einem Verbleib Deutschlands in der NATO nicht nach Osten verschieben würden.

Seitdem sind – sage und schreibe - 14 neue Staaten der NATO beigetreten, da-runter fast alle ehemaligen Ostblockländer, die Russland wie einen Sicherheits-gürtel umgeben hatten. Und es sollen noch mehr werden. Georgien? Die Ukraine? 30 Staaten sind heute verbündet gegen Russland unter Führung der USA, die im letzten Jahr 11mal mehr für die Rüstung ausgegeben hat als Russland. Frage: Ist der Westen unberechenbar?

- Nach dem Zerfall des Ostblocks entstanden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion 15 neue unabhängige Staaten. Muss Russland nicht, wie jede andre Großmacht auch, darauf bedacht sein, dass die Staaten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht seine Sicherheit gefährden?

 - Seit fast 250 Jahren, seit Katharina der Großen, ist Russland eine Großmacht. Zu ihm gehört die Krim. Von nun an und für alle Zeiten, wie es im Vertrag von damals steht.

Amerika hatte es damals unter Kennedy nicht geduldet, dass sowjetische Ra-keten auf Cuba stationiert werden. Ich fand das nachvollziehbar, obwohl Cuba ein souveräner Staat ist. Warum soll Russland es zulassen, dass Sewastopol ein Nato-Kriegshafen wird? 

 -  22 Millionen Russen fanden sich nach der Auflösung der Sowjetunion plötzlich außerhalb ihrer russischen Heimat wieder. Hat Russland diesen Menschen gegenüber keine Verantwortung?  

 -  Barack Obama hat Russland eine nur noch regionale Macht genannt. Hatte er kein Gespür dafür, wie sehr er damit Russland gedemütigt hat oder wollte er es?  Ist der Westen womöglich zu allem fähig?

 

Muss eine verantwortliche Politik nicht die Sicherheitsinteressen des Gegners mitberücksichtigen, so wie es einst Willy Brandt mit seiner Sicherheitspartnerschaft gemacht hat? Und muss er das nicht auch dann tun, wenn Putin kein lupenreiner Demokrat ist, wie der Macho Gerhard Schröder den Macho Wladimir Putin mal beschrieben hat? Wo findet man denn schon lupenreine Demokraten? In Ungarn, in Polen, in der Türkei? Alles mit uns verbündete NATO-Länder!

Und wenn es ums Völkerrecht geht, das ein hohes Gut ist: haben wir gegen die Türkei Sanktionen erhoben, als sie 1974, den Norden Zyperns besetzten, politisch nachvollziehbar, aber völkerrechtswidrig? So wie Putin die Krim annektierte, völkerrechtswidrig, aber politisch nachvollziehbar.

 

Und: Klagen wir die USA an, weil sie völkerrechtswidrig mithilfe ihrer deutschen Militärbasis Ramstein Drohnenangriffe fliegen, um missliebige Personen überall in der Welt zu eliminieren, wie man so sagt?

 

Putin lenkt eine Großmacht, ein großes Volk, das stolz ist auf seine tausendjährige Geschichte, seine Traditionen, seine Zivilisation, seine russische Welt, einen Staat, der verkraften muss, dass seine Landmasse geschrumpft ist etwa auf die Größe des Landes vor Katharina der Großen. Dieses Volk, diesen Staat hat der Westen nie ernsthaft mit hinein genommen in seine Sicherheitspolitik. Im Gegenteil, er bedrängt ihn, um ihn klein zu halten. Putin beklagt sich zu Recht über die Diskriminierung Russlands und fordert mehr Respekt.

 

Betrügen wir uns nicht selbst, lese ich in meiner Bibel. Halten wir uns nicht länger für die Guten und die Russen für die Schlechten, für die Unberechenbaren, denen man nicht vertrauen darf, weil sie ja zu allem fähig sind.

 

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Vielleicht sehen wir uns morgen wieder, an einem der sowjetischen Ehrenmale, im Tiergarten, in Treptow, in der Schönholzer Heide, in Karlshorst oder in Buch, um den toten Soldaten dafür zu danken, dass sie uns befreit haben.