Sanktionen bei Hartz IV - Jede Kürzung durch das Jobcenter ist verfassungswidrig!

Auf Antrag der Fraktion DIE LINKE hat der Bundestag am 26. April über die Abschaffung aller Leistungskürzungen bei Hartz IV und bei der Sozialhilfe beraten. Natürlich verteidigte die Parlamentsmehrheit die Sanktionen, obwohl sie verfassungswidrig sind. Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz (GG) lautet: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Doch Theorie und Praxis klaffen auseinander. Jede Hartz-IV-Empfängerin und jeder Hartz-IV-Empfänger weiß, wie es tatsächlich um den Sozialstaat steht. Deutsche Behörden beweisen es tagtäglich.

Theoretisch hat in Deutschland jeder Mensch in einer existenziellen Notlage einen Anspruch auf ein Minimum staatlicher Leistung. Niemand soll, weil er hilfebedürftig ist, hungern, krank werden oder von Kultur ausgeschlossen sein. In der Praxis wird die Gewährung von ALG II an Gegenleistungen gekoppelt. Gefördert wird nur, wer im Sinne des Jobcenters „gefordert“ wird, d.h. brav Termine wahrnimmt, eine Eingliederungsvereinbarung einhält, jede „zumutbare“ Arbeit annimmt etc. Erfüllt jemand seine angeblichen Pflichten nicht, wird er diszipliniert. 2010 wurden mehr als 828.000 Sanktionen verhängt; in 5.870 Fällen kam es zu einer vollständigen Kürzung der laufenden Leistungen. Eine Kürzung um 100% bedeutet, von läppischen 374 Euro im Monat keinen einzigen zu Gesicht zu bekommen. Es bedeutet, nicht zu wissen, wie man Lebensmittel kaufen oder die Praxisgebühr zahlen soll. Es bedeutet, von Kinobesuch und Kneipenabend, von Latte Macchiato, Essenseinladungen und einer guten Tageszeitung, von eigenem Computer oder einem Haustier, von Geburtstagsfeiern und Nachhilfekursen für die Kinder, von einer Zigarette oder einem Glas Rotwein und von vielem mehr nur träumen zu können. Es bedeutet, beim Amt um Sachleistungen betteln zu gehen. Es bedeutet soziale Exklusion und ständige Diskriminierung. Es bedeutet eine unwürdige Lebenssituation.

Die Menschenwürde ist nicht antastbar. Auch nicht durch den Sachbearbeiter im Jobcenter. Dies sollte sich jede Hartz-IV- Empfängerin vor Augen halten, wenn sie ihr mal wieder gestrichen wird.

Das BVerfG hat am 9.2.2010 aus der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsgebot ein subjektives Gewährleistungsrecht hergeleitet. Es erstreckt sich auf alle Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind: Neben der physischen Existenz gehört dazu auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Recht auf Zusicherung eines einheitlichen Existenzminimums ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“, der gesetzliche Leistungsanspruch muss stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf decken. Das Bundesverfassungsgericht weist dem Parlament den zwingenden Auftrag zu, den Leistungsanspruch auszugestalten, d.h. durch eine Bedarfsberechnung seinen Umfang zu bestimmen und ihn in jedem Einzelfall zu garantieren. Der Gesetzgeber muss den zum physischen Überleben und zur sozialen Teilhabe notwendigen Bedarf nachvollziehbar berechnen. Tut ein Gesetz das nicht, greift es selbst in das Grundrecht ein.

Ein solcher Fall sind die Sanktionsnormen im SGB II. Sie führen zu einem Schwinden des „unverfügbaren“ Existenzminimums, einzig zum Zwecke der Bestrafung. Es fehlt jeder Zusammenhang mit dem tatsächlichen Bedarf der Hilfebedürftigen. Die Kopplung der Leistungsgewährung an Verhaltensvorgaben verstößt bereits für sich gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG. Indem für jede „Pflichtverletzung“ ein prozentualer Abschlag vorgesehen ist, wird kein tatsächlicher Bedarf berechnet, sondern Verhalten sanktioniert. Bereits die gesetzliche Grundlage einer Kürzung ist also verfassungswidrig. Jede einzelne durch das Jobcenter verhängte Sanktion ist demnach rechtswidrig, unabhängig davon, ob sie im Einzelfall zu einer akuten Notlage führt.

Wenn man obige Argumente nun im Widerspruch auflistet oder als Minderheit im Parlament vorträgt, ist das Existenzminimum dadurch noch lange nicht gesichert. Solange deutsche Parlamentarierinnen und Parlamentarier verfassungswidrige Gesetze verabschieden, solange sie den Sozialstaat und die Menschenwürde unter Gegenleistung stellen können und zugleich die Richterinnen und Richter wählen, die beides verteidigen sollen – solange bleibt den Betroffenen keine Garantie, sondern nur eine leise Hoffnung: dass wer Recht hat, irgendwann auch einmal Recht bekommt. In unserem ach so demokratischen und sozialen Rechtsstaat.

Isabel Erdem

Der Antrag der Fraktion DIE LINKE, der am 26.April 2012 zur abschließenden Beratung stand:

http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf

Ausführlich zum Thema:

Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, In: Die Sozialgerichtsbarkeit 03.12, S. 134 – 140.