Faschisten in ukrainischer Regierung – Bankrotterklärung der europäischen Idee?

Wer ist zurzeit konfrontationsfreudig? Die Russische Föderation, die gegenüber der bellizistischen Praxis der NATO ein integriertes Warn- und Raketenabwehrsystem für ganz Europa vorschlug? Oder Paris, das in Mali und Zentralafrika erneut neokolonial europäische Interessen „verteidigt“? [1] Und die USA sowie ihre NATO-Partner, die Irak, Syrien, Afghanistan und zunehmend auch die Militär-Marionettenregierung in Pakistan in hochgerüstete und instabile Brandherde verwandeln und Drang nach Osten 2.0 auflegen?

Auf dem europäischen Parkett pflegten die westlichen Regierungen Moskau – trotz seiner formellen Integration in die kapitalistische „internationale Gemeinschaft“ während der 1990er Jahre – zum Klappstuhlgast zu degradieren: In der vergangenen Dekade entzog der Europarat in Strasbourg Russland bereits einmal das Stimmrecht, [2] dies wiederholte sich im vergangenen April wegen der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. [3] Asymmetrische Vergleiche wie etwa des tschechischen konservativen Politikers Karel Schwarzenberg, dass Putin auf der Krim eine ethnische Minderheitenpolitik wie Hitler Ende der 1930er Jahre fahren würde, täuschen über die sicherheits- und geostrategische Einkreisungspolitik der NATO gegenüber der russischen Interessenssphäre hinweg. Im Übrigen ist die ethnizistisch-sezessionistische Politik der BRD sowie der USA in Mitteleuropa ungleich kriegerischer (Kosovo-Angriffskrieg 1999) und zugleich unter Ausnutzung aller religiöser Identitäten des Balkan dient dies einer NATO-Neuordnungspolitik: pro muslimische Kosovaren und katholische Kroaten (Bsp. Srpska Krajina 2005!), contra orthodoxe Serben, die als ewiger Bundesgenosse Moskaus bereits vor dem Ersten Weltkrieg sowie während der beiden Weltkriege Dorn im deutsch-österreichischen Auge waren.

Diplomatische Aggressionen des NATO-EU-Blocks gegen Russland starteten zudem 2008: Georgien, von Brüssel und Washington unterstützt, beschoss zuerst die Hauptstadt Südossetiens mit Artillerie und startete dann eine Bodenoffensive. Tiflis musste, um NATO-Mitglied zu werden, die ungeklärten Territorialfragen bezüglich der unabhängigen Republiken Südossetien und Abchasien (von Georgien freilich nicht als unabhängig anerkannt) klären, da laut Statut kein Land mit offenen Territorialkonflikten dem transatlantischen Bündnis beitreten darf. Doch Moskau reagierte rechtzeitig.

Russland bemüht sich international, die Entstehung eines eskalierenden Flächenbrands am südlichen Rand seiner traditionellen Einflusssphäre zu verhindern und stellt nicht nur ein Gegengewicht zu den ungehaltenen Kapitalinteressen des Westens dar, die in Krisenzeiten beschleunigt neue Expansionsmärkte erschließen wollen. Moskau hat auch ganz materielles Interesse an wirtschaftlicher und politischer regionaler Kooperation: Die neue „Seidenstraße“, jener so in den chinesichen Medien genannte Hochgeschwindigkeitsgüterzug, der seit Kurzem Duisburg (größter Binnenhafen Europas) mit Südost-China verbindet, wird mittelfristig die Wirtschaftsblöcke EU-Asien, insbesondere die Exportgrößen Deutschland und China, aber auch die anderen verbundenen Märkte wie Russland näher zusammenschweißen, zugleich die US-Dominanz (traditionell qua militärischer Kontrolle der strategischen Meereshandelsrouten) begrenzen. Die USA scheinen diese begonnene Annäherung über den Streitapfel Ukraine abbremsen zu wünschen, um eine Achse Berlin-Moskau-Peking zu vereiteln.

Cui bono?
Der Machtwechsel in Kiew war nicht legal, denn die 238 ukrainischen Abgeordneten, die den ehemaligen Präsidenten seines Amtes enthoben, entsprachen nicht den verfassungsrechtlich erforderlichen 75% der Parlamentarier, sodass es sich um einen rechtswidrigen Coup d'État handelte. Für den großen ukrainischen Revolutionär Machno und seine Bewegung vor 100 Jahren wäre es posthum eine Beleidigung, sie in eine Reihe mit den Ereignissen der letzten Monate, scheinbar revolutionärer Natur, zu stellen.

Eine Teilverantwortung für den Putsch in Kiew tragen die Konrad-Adenauer-Stiftung (welche Vitali Klitschkos Partei seit 2010 finanzierte, welcher heute Bürgermeister Kiews ist.), [4] und die USA, die seit Reaggan mit Bandera-Faschisten [5] in der Ukraine in Verbindung stehen. Darüber hinaus gibt es keinen Zweifel, dass der Putsch von Washington gesponsert wurde, wie das geleakte Telefongespräch zwischen der Vize-Außenministerin Victoria Nuland und US-Botschafter Geoffrey R. Pyatt sehr beredt belegt.

Für die weitere EU-Expansion nach Osten (seit den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 sowie der Östlichen Partnerschaft mit Georgien, Armenien und der Ukraine dieses Jahres) [6] und damit die Beherrschung der eurasischen Sphäre braucht das euro-atlantische Reich im gaslieferungsrelevanten Schwarzen Meer einen Fuß in der Tür (Gas aus Turkmenistan und Siberien wird hierüber nach Bulgarien und Rumänien geleitet).

Berlin, Paris und Warschau haben den Coup d'État in den entscheidenden Tagen der letzten Phase Mitte bis Ende Februar vor dem Umsturz diplomatisch begleitet und den Übergang Kiews aus einem engen Moskau-Bündnis in ein West-Bündnis außenpolitisch abgesichert. Die Übereinkunft vom 21. Februar 2014 ist ein chef d'oeuvre der neuen konzertierten Diplomatie des entstehenden deutsch-europäischen Reichs, das dem US-Hegemon wie schon der EGKS- und anschließend EG-Gründungsphase 1950-57 systematisch sekundiert. Dieser gezielte Beistand des EU-Blocks für die US-Interessen spiegelt sich auch in der gegenwärtigen Spionage-Affäre in Berlin wider, wo die Bundesregierung lediglich mit einer zaghaften Einladungen statt Vorladungen des US-Botschafters sowie anschließend mit einer debilen Ausreiseaufforderung statt formeller Ausweisung des Geheimdienstdiplomaten reagierte (zur Persona non grata erklären kann man eben niemals jemanden, dem man strukturell zuarbeitet, das ist nur folgerichtig)! Die US-Militär- und -Spionagebasen auf dem Bundesgebiet sind eben nicht nur Beamtenbüros, sondern souveräne Einrichtungen, sie führen auch polizeilich-hoheitsrechtliche Maßnahmen in der BRD durch. Dies unterstreicht die andauernd mangelhafte Souveränität der BRD.

Über die Krim, die selbstbestimmt erst sich vom putschistischen Kiew sich lossagte und dann erst sich dem russischen Volk anschloss, [7]  ist wiederum nichts hinzuzufügen, bis auf eine völkerrechtliche Tatsache, die oft ungenannt bleibt: Seit vierzig Jahren hat die UNO das „uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht, wie es seit 1966 kodifiziert ist“, aufgewertet, sodass es als Sezessionsrecht zum „zentrale[n] Rechtssatz des Völkerrechts“ avancierte. [8] Da, wo es dem hegemonialen Staatenblock passt, wird aus einer sezessionistischen Bewegung schnell ein Staat wie vor einigen Jahren auf dem Balkan und später im Südsudan (ein maßgeblich von den USA und Berlin vorangetriebenes separatistisches Projekt) geschehen, das wenig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu tun hatte.

Für die internationalen Interessen der Arbeiterklasse hingegen kann es nur gelten, diesen ukrainischen Testlauf für eine seit dem Maastricht-Vertrag kodifizierte EU-Außenpolitik entschieden abzuwehren und jede Form des Widerstands gegen die faschistoide Exekutive in der Ukraine, ebenso wie in der völkischen Regierung in Budapest, nach Kräften zu unterstützen. Will die Revolution leben, so muss der Faschismus sterben.
Tobias Baumann

 


An­mer­kun­gen

[1] Die fran­zö­si­sche Gran­de Bour­geoi­sie, die er­folg­reich ihre mas­si­ve Ver­stri­ckung in NS-Ko­ope­ra­ti­on vor und nach 1940 zu ver­de­cken weiß, star­tet immer grö­ße­re neo­ko­lo­nia­le Aben­teu­er. In Frank­reich ist z.B. bis heute der Kol­la­bo­ra­teur Louis Re­nault, der den Nazis Pan­zer lie­fer­te, von sei­ner his­to­ri­schen Schuld rein­ge­wa­schen in he­ge­mo­nia­len Ver­öf­fent­li­chun­gen und Me­di­en (vgl. Prof. Dr. Annie La­croix-Riz).

[2] Das 1949 lan­cier­te Men­schen­rechts­bünd­nis mit ei­ge­nem in­ter­na­tio­na­len Ge­richts­hof, dem auch Län­der wie die Tür­kei (Grün­dungs­mit­glied) sowie Ar­me­ni­en, Ge­or­gi­en und Aser­bai­dschan(des­sen au­to­ri­tä­res Re­gime erst kürz­lich wie­der in fla­gran­ter Miss­ach­tung der Eu­ro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on von jeg­li­chem Ver­dacht sys­te­ma­ti­scher Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch den Eu­ro­pa­rat rein ge­wa­schen wurde, aus in­ter­es­sen­po­li­ti­schen Gründen, wie die FAZ mut­maß­te) an­ge­hö­ren.

[3] "Die rus­si­sche De­le­ga­ti­on hatte die De­bat­te über die Sank­tio­nen boy­kot­tiert. De­le­ga­ti­ons­lei­ter Ale­xej Pusch­kow, Chef des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses der Staats­du­ma (rus­si­sches Un­ter­haus), be­zeich­ne­te die Dis­kus­si­on als eine 'po­li­ti­sche Farce, die nur Ab­scheu her­vor­ru­fen kann'." Vgl. Russland verliert Stimmrecht im PACE bis Jahresende   

[4] Die Ko­ope­ra­ti­on Klitsch­kos mit Swo­bo­da mach­te diese sa­lon­fä­hig wie auch u.a. die SZ be­rich­te­te. Nicht zu­letzt po­sier­ten auch die EU-Au­ßen­be­auf­trag­te Ash­ton und Au­ßen­mi­nis­ter Stein­mei­er (ei­gens in der Bot­schaft der BRD in Kiew!) neben dem Swo­bo­da-Füh­rer Oleg Tia­gni­bok. Ein wei­te­res Indiz für die ge­schichts­träch­ti­ge deutsch-eu­ro­päi­sche, pro-fa­schis­ti­sche Au­ßen­po­li­tik in der Ukrai­ne, his­to­risch und po­li­tisch nur ver­gleich­bar mit den Auf­trit­ten der US-Exe­ku­ti­ve nebst ein­ge­setz­ten bzw. her­bei­ge­putsch­ten dik­ta­to­ri­schen Statt­hal­ter- sowie Kom­pra­do­ren­bour­geoi­sie­re­gie­run­gen in La­tein­ame­ri­ka in den 1940er bis 80er Jah­ren.

[5] Zu den ver­schie­de­nen For­men des Fa­schis­mus und fa­schis­ti­scher Be­we­gun­gen, die in fast allen de­mo­kra­ti­schen Län­dern la­tent be­ste­hen und, auch wenn sie an die Macht kom­men, un­ter­schied­lich star­ke Aus­prä­gun­gen an­neh­men je nach Kräf­te­ver­hält­nis­sen etc., vgl. Ro­bert O. Pax­ton, "Ana­to­mie des Fa­schis­mus" u.a.

[6] Das As­so­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit den drei Län­dern der Öst­lichen Part­ner­schaft wurde kürz­lich er­folg­reich un­ter­zeich­net und u.a. in Ber­lin ge­mein­sam mit der Eu­ro­päi­schen Kom­mis­si­on und den drei Bot­schaf­ten im Rah­men eines fei­er­li­chen Emp­fangs ze­le­briert. Die EU-Exe­ku­ti­ve hat de­fi­ni­tiv den Jörg Hay­der-Kom­plex der 1990er Jahre ab­ge­legt und schwenkt auf eine zu­neh­mend of­fe­ne Ko­ope­ra­ti­on mit völ­ki­schen (Un­garn seit 2010) und fa­schis­to­iden (Kiew 2014) Re­gie­run­gen ein.

[7] Vgl. Auf­satz von Prof. Dr. Her­mann Klen­ner: De jure und de facto in Junge Welt; auch bei face book seite  von roten bär: Aktuell versucht die ukrainische Regierung mit militärischen Mitteln, den Widerstand gegen sie im Osten des Landes niederzumachen. Aber auch die Krim, sie hatte sich am 18. März für einen Beitritt in die Russische Föderation entschieden, bleibt im Visier der neuen Machthaber: »Die Krim war und bleibt ukrainisch«, betonte der Präsident und Oligarch Petro Poroschenko in seiner Antrittsrede am 7. Juni 2014.
Zur juristischen Seite der Überführung hielt Prof. Dr. Hermann Klenner vor Mitgliedern der Kommunistischen Plattform vor kurzem einen Vortrag. Der folgende Beitrag ist der Abdruck seines Referats, das nun im Juni-Heft der Mitteilungen des Zusammenschlusses in der Linkspartei ­erschien. (jW)

[...] Mit Erörterungen über die Legitimität von Legalität, über Ursachen und Wirkungen, über Begründungen und Folgen des Rechts wie der von rechtskonformen Entscheidungen von Staaten wird ein Problembereich freigelegt, ohne den die Wirklichkeit des Geschehens, auch die des Rechts, nicht begriffen werden kann. Zu Rußlands Verhalten im Krim-Konflikt, besonders zur Wahrnehmung der völkerrechtlich konformen Berechtigung der Russischen Föderation, die Republik Krim als neu entstandenen Staat anzuerkennen und mit diesem einen Beitrittsvertrag zu vereinbaren, wenigstens und in Frageform einige Andeutungen: Konnte es für Rußlands Entscheidungen im Krim-Konflikt gleichgültig sein, daß diese Region seit 1783 zu Rußland gehört hatte, daß im Kurort Jalta von den Alliierten im Februar 1945 die Nachkriegsordnung beschlossen wurde, und daß die Halbinsel dann 1954 auf undemokratische Weise an die Ukraine fiel? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß Deutschland, dessen gegenwärtige Regierung den Staatsstreich in der Ukraine materiell und ideell unterstützte, Rußland 1914 den Krieg erklärt, im Zweiten Weltkrieg viele Millionen Russen ermordet und daß dessen Naziwehrmacht zwischen 1942 bis 1944 die Krim besetzt hatte? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß die Putschisten in Kiew mit Gewalt und Verfassungsbrüchen die Macht okkupiert, Russophobe, Antisemiten und bekennende Bandera-Adepten in Staatsämter gehievt sowie die Menschenrechte nationaler Minderheiten in der Ukraine eingeschränkt hatten? Und daß deren Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko sich dazu bekannte, »mit einer Kalaschnikow dem Dreckskerl (Putin; d.Red.) in den Kopf schießen« zu wollen? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß die USA unter Verletzung der UN-Charta von 1945 durch ihre Aggressionspolitik in Vietnam, Afghanistan und Irak Völkerrechtsbrüche aus Prinzip begingen? Daß die NATO, auch unter Mißachtung der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen von 1974 Jugoslawien bombardierte und entgegen aller Zusagen ihr Territorium in den letzten 20 Jahren systematisch nach Osten ausdehnte? Und hätte Rußland unter Mißachtung der eigenen Sicherheitsinteressen abwarten sollen, bis in Sewastopol neben der eigenen Flotte auch die der NATO ankert? Hätte das nicht aber, statt dem Frieden in der Welt zu dienen, ihn eher und in Permanenz gefährdet? [...]

[8] Vgl. Jörg Fisch, "Das Selbs­be­stim­mungs­recht der Völ­ker - die Do­mes­ti­zie­rung einer Il­lu­si­on", C.H. Beck, 2008, S. 53 f. Der Autor wen­det ein, dass das Se­zes­si­ons­recht in der UNO zum "obers­ten Men­schen­recht er­ho­ben wor­den" sei. Ebd.

Quelle: © 2014 by Tobias Baumann; Mit freundlicher Genehmigung des Autors, veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014