Geht's noch?

Für Empörung in der demokratischen Öffentlichkeit  sorgt der Vorschlag des CDU Europaabgeordneten Elmar Brok in der Bild-Zeitung, man solle darüber nachdenken, Fingerabdrücke von Bulgaren und Rumänen zu nehmen, um unerwünschte Mehrfacheinreisen zu verhindern. Zuwanderer, die wegen Hartz IV, Kindergeld oder Krankenversicherung nach Deutschland kämen, müssten schnell zurück in ihre Heimatländer geschickt werden“, fordert der CDU-Rechtsaußen.

Diese rechtspopulistischen Töne korrespondieren mit einer Kampagne der CSU unter der Parole „Wer betrügt, der fliegt“. Ein gleichnamiges Positionspapier verabschiedete die CSU auf ihrer Klausur in Wildbad Kreuth. Anlass dieser Schmierenkampagne ist die seit Anfang des Jahres geltende neue Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU jetzt auch für Bulgaren und Rumänen.

Verschwiegen wird dabei, dass EU-Zuwanderer in den ersten drei Monaten überhaupt keinen Anspruch auf Zahlungen zum Lebensunterhalt haben. Wer sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhält, hat nach geltendem Recht keinen Anspruch auf Hartz IV. Ansprüche erwerben Zuwanderer erst, wenn  sie eine Weile in Deutschland gearbeitet haben. Erst wer sechs Monate in einem sozialversicherungspflichtigen Job beschäftigt war und diesen unverschuldet verliert, kann Hartz IV beantragen.

Wer sich in Deutschland selbstständig macht oder als Angestellter sehr wenig verdient, kann aufstockend Hartz IV beantragen. Eine Möglichkeit, von der nicht allzu viele Rumänen und Bulgaren Gebrauch machen: So bezogen zur Jahresmitte 2013 nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) nur ca. 2000 Selbstständige aus Bulgarien und Rumänien „Aufstocker-Leistungen“. 

Keine besondere Belastung der Sozialkassen durch Bulgaren und Rumänen
Nach Angaben desselben Instituts bezogen Mitte 2013 insgesamt nur 10 Prozent der  in Deutschland lebenden 37.000 Rumänen und Bulgaren Leistungen aus Hartz IV. Mehr als die Hälfte der vergleichsweise jungen Bulgaren und Rumänen waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Diese Daten sind sogar im Vergleich zu den Herkunftsdeutschen günstiger!

Auch das Vorurteil, es kämen bereits jetzt viele kinderreiche Familien nach Deutschland, weil sie hier vom Kindergeld leben wollen, sieht IAB-Forscher Brücker in den Statistiken nicht bestätigt. So ist der Anteil der Kindergeldempfänger an der hier lebenden Bevölkerung aus Rumänien und Bulgarien mit 8,8% geringer als im Bevölkerungsschnitt der Bundesrepublik (10,8%). Auch ist die Arbeitslosenquote bei den Mitte 2013 in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen mit 7,4% sogar niedriger als bei Menschen mit deutschen Pass (7,7%). Von einem „massenhaften Problem“ könne man nicht sprechen, so Brücker.

DIHT: „Deutschland braucht Zuwanderung“
Nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelstages benötige die deutsche Wirtschaft 1,5 Millionen neue Arbeitskräfte, um Wachstum zu steigern und die Sozialsysteme (Rente!) zu stabilisieren. Und Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier stellt Anfang Januar dieses Jahres klar: „Einwanderer zahlen deutlich mehr Steuern und Sozialversicherungen, als sie Sozialleistungen beziehen!“

Verstärkte Ausbeutung von Zuwanderern
In der Debatte wird gänzlich verschwiegen, dass viele Zuwanderer, auch aus der EU, in Deutschland besonders auf dem Bau, in der Gastronomie oder als Erntehelfer unter Billiglöhnen leiden. Sie werden unter Tarif bezahlt, oft ohne Versicherung, ohne Rentenanspruch und ohne Arbeitsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Und gerade für Erntehelfer fordert die CSU eine Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn! Auch wird verschwiegen, dass von Deutschland gezielt abgeworbene rumänische und bulgarische Ärzte und Krankenschwestern eine große Lücke in der medizinischen Versorgung ihrer  Heimatländer reißen.

Ein Beispiel für Demagogie
Besonders perfide ist es, wenn Europapolitiker eines Schlages von Elmar Brok auf Demonstrationen der ukrainischen Opposition, übrigens vereint mit Mitgliedern der rechtsextremen Partei Swoboda, von der dortigen Regierung den Beitritt zum Assoziierungsabkommen mit der EU einfordern. Dieses Abkommen sieht neoliberale Strukturanpassungsprogramme vor, die eine Verdoppelung der Gaspreise und damit der Heizkosten für Privathaushalte, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und einen Rentenstopp nach sich ziehen – also Maßnahmen des Sozialabbaus, der viele Menschen zur Migration aus ihrer Heimat zwingen wird. Verlogener können Politiker nicht sein!

Carsten Schulz