30 Jahre Mauerfall

Marianne Lampel, Andreas Bräutigam

Gibt es noch Unterschiede in der Nachwendegeneration?

Um sich mit dieser spannenden Frage zu beschäftigen, trafen sich, vor den Corona-Auflagen, im privaten Kreis sechs Mitglieder der Linken des Bezirksverbands Tempelhof-Schöneberg: Katharina Marg, Carolin Behrenwald, Martin Rutsch und Lukas Scholle (alle zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig) sowie die Verfasser dieses Artikels.

Angeregt durch unsere Fragen berichteten alle aus ihren persönlichen Familienbiografien rund um die Themen Schule, Arbeit, Familie, Alltag und Sprache.

Martin und Lukas - beide in Westdeutschland bzw. Berlin (West) und nach der Wende geboren - hatten keine Verwandten in der ehemaligen DDR und somit keinerlei Kontakte dorthin. Insofern haben sie nur ein vereintes Deutschland ohne eigene lebensweltliche Erfahrungen in oder mit der DDR erlebt. Im Gespräch stellte sich heraus, dass ein Elternteil von Lukas in der Nachwendezeit dennoch einen DDR-Bezug hatte, indem es beruflich „an der Transformation der neuen Bundesländer in Marktwirtschaften“ beteiligt war.

Katharina verbrachte ihre Kindheit und Jugend in ihrer Geburtsstadt in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Sie schildert anschaulich, wie der Zusammenbruch der bis dato vorgegebenen politischen und sozialen Strukturen der DDR sowohl ihre Familie als auch ihr schulisches Umfeld prägte und in vielen Fällen zu prekären Verhältnissen und zu einer tiefen Verunsicherung der Menschen führte. Es gab jedoch auch den anderen Teil der Familie, tätig im künstlerischen Bereich, der vor dem Mauerbau im Ausland gelebt hatte. Die Familie und ihr weiteres soziales Umfeld haben sie beeinflusst und motiviert, sich intensiv mit der deutschen Geschichte zu befassen. Sie machte sich früh selbstständig und arbeitete in vielen Berufen. „Durch Studium, viele Reisen und Begegnungen mit Menschen wurde ich zur Trans-&Internationalistin“. Auch heute sucht sie immer wieder den Diskurs mit ihrer Familie und stößt dabei an Grenzen wie auch auf Verständnis. Einhellig jedoch sei in der Familie die Ablehnung der Stasi und deren Methoden gewesen.

Carolin – noch in der DDR geboren – und ihre Eltern gingen bereits kurz nach der Wende in die alten Bundesländer und Carolin dort in die Schule. Die Kinder aus der ehemaligen DDR waren hier in der Minderheit. Die DDR wurde im Unterricht von den Lehrern nicht erwähnt. Carolin erlebte einen deutlichen Unterschied in der Sprache und in der Form des Umgangs miteinander. Die eigene Individualität war wichtiger als das kollektive Miteinander, das für sie immer im Fokus stand. Das erlebe sie heute auch noch so.

Katharina und Carolin schildern die traumatischen Umbrüche in der Erwerbsbiografie der jeweiligen Eltern. So wurde z. B. die Ausbildung von Carolins Mutter als Erzieherin im Westen nicht anerkannt und sie musste sich „nachqualifizieren“. Betriebe wurden geschlossen. 80 % aller ehemaligen DDR-Bürger wurden arbeitslos. Dadurch konnte Katharinas Vater nicht mehr als Tierarzt weiterarbeiten und musste sich neu orientieren – ebenso ihre Mutter.

Das Trauma der DDR-Elterngeneration über die Disqualifizierung der eigenen Person und den Verlust vertrauter sozioökonomischer Strukturen ging so weit, dass es 10 Jahre lang nach dem Mauerfall zu einem deutlichen Geburtenknick kam.

Wie jeder durch die Wurzeln seiner Herkunft geprägt ist, so ist es auch die Nachwendegeneration.

Was motiviert gerade diese Generation, sich in der Partei „DIE LINKE“ zu engagieren?

Auf diese Frage führen Martin und Carolin die Agenda 2010 an. Die Erfahrungen von Martins Eltern mit Arbeitslosigkeit, wiederkehrender saisonaler Kurzarbeit und andauernden Schwierigkeiten mit dem Jobcenter führten ihn eher aus einem Impuls heraus als aus gründlich-planerischer Überlegung in DIE LINKE.

Für Carolin, in deren Familie arbeitnehmerpolitisches Engagement Tradition hat – ihr Vater war Gewerkschafter und SPD-Mitglied, war und ist DIE LINKE „die einzige Partei, die sich für diejenigen, die sonst keine Stimme haben (Migrant:innen, Sexarbeitende, Menschen ohne Erwerbsarbeit), und für eine Gesellschaft einsetzt, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben und sich und ihre Lebensgestaltung nicht einer Marktlogik unterwerfen müssen.“ DIE LINKE stehe für eine Politik, „die den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt und so den Raum schafft, damit sich Menschen entwickeln können.“

Auch für Lukas, der sich schon länger vor dem formalen Eintritt der Linkspartei zugehörig gefühlt hatte, waren wirtschafts- und verteilungspolitische Erwägungen ausschlaggebend: „DIE LINKE ist … die einzige Partei, die sich ernsthaft für die Millionen statt für die Millionäre einsetzt“, sagt er. Es sei „ein vollkommen falscher Rahmen“, dass „die Leistungsträger:innen unserer Gesellschaft oft einen höheren Steuersatz bezahlen als die oberen 1% auf ihre Kapitaleinkommen und ihre Erbschaften.“

Katharina gibt auf die Frage nach ihrem Eintritt in DIE LINKE zwei Antworten. In der kurzen Antwort führt sie ihr Engagement in einem Sportverein an. Ihre lange Antwort schöpft tief aus ihrer Familien- und persönlichen Biografie und beschreibt viele Momente von erlebter oder selbst erfahrener Ungerechtigkeit, Verletzung und Ausbeutung, aber auch von bewusstem und kämpferischem Engagement. Von der LINKEN sah und sieht Katharina „ihre Ideen am besten repräsentiert“.
Marianne Lampel,  Andreas Bräutigam