Berlinale 2019 – zwischen Hoffen und Bangen

Kai Jensen
Die Lupe

Die diesjährige Berlinale, zum letzten Mal geleitet vom charismatischen Dieter Kosslick, war wieder eine sehr politische. Daraus machte er auch keinen Hehl, ganz im Gegenteil betonte er bei seiner letzten Pressekonferenz am 16. Februar, dass es ihm ein Anliegen sei, mit den Filmen auf Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie, Antisemitismus und alle anderen Unterdrückungsmechanismen hinzuweisen.

Er meinte, dass er die Hoffnung habe, dass anspruchsvolles Kino einen kleinen Beitrag zu einer menschlicheren, gerechteren Welt leisten könne.

In den deutschen Beiträgen „Off Season“ und „Heute oder Morgen“, beide gezeigt in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“, wird eine zunehmende Entfremdung zwischen den Menschen, die im neoliberalen Kapitalismus seine Ursache hat, deutlich.

In „Heute oder Morgen“ (D 2019) sind Maria und Nils nur auf den ersten Blick ein glückliches Paar. Schnell wird deutlich, dass zwischen den Beiden sich Langeweile breitgemacht hat. Deshalb suchen sie sich eine dritte Person, die wieder Schwung in die Beziehung und in ihr Liebesleben bringen soll.

Der Versuch, einen Künstler in einer Kneipe dafür zu gewinnen scheitert kläglich, aber Chloë lässt sich darauf ein. Aber selbst der Sex zu dritt wirkt irgendwie klinisch rein, die Dialoge sind inhaltsleer, sie klauen Obst wie Jugendliche und sprayen in U und S Bahnhöfen, um die innere Leere zu füllen. Nils, der in einem Cafe arbeitet, erweist sich auch noch als Sexist: obwohl er sich für ultracool und links hält, schmettert er seiner Chefin entgegen: „Hast wohl deine Tage, oder was ist?“, als diese ihm vorhält, dass er, ohne zu fragen einen Obdachlose mit Kaffee und Croissants versorgt. Auch gegenüber den beiden Frauen ist sein Verhalten oft mehr als grenzwertig.

Das wollte auch der Regisseur Thomas Moritz, mit dem ich nach dem Film sprechen konnte, deutlich machen, ohne die Zuschauer*innen zu bevormunden: jenseits von Klassengegensätzen gibt es auch in linken Kreisen Underdrückungsmechanismen wie Sexismus.

Auch in „Off Season“ (D 2019) ist die Luft zwischen Gregor und Judith, die ein Kind erwartet, raus. Ihre Versuche, die Beziehung durch einen Italienurlaub zu kitten, wirken doch sehr verzweifelt. Andauernd geht Judith an ihr Handy und telefoniert mit ihrem Vater, in dessen Firma sie arbeitet. Gregor ruft dann dazwischen: „JUDITH, IWR SIND IM URLAUB!“, was Judith ihm sehr übel nimmt. Nicht einmal im Urlaub werden Arbeitnehmer*innen in Ruhe gelassen, es spielt dabei auch keine Rolle, dass es sich hier um einen Familienbetrieb handelt. Das Hotel ist in der Nebensaison wie ausgestorben und auch sonst wirkt alles irgendwie klinisch steril. Judith bricht auch immer mal aus der Beziehung aus, indem sie bspw. allein durch die Straßen schlendert und sich spontan einer Geburtstagsfeier anschließt. Sie ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt gern Mutter werden will, spricht aber mit Gregor nicht darüber.

Hoffnung bieten dagegen die wunderbaren Beiträge „37 Sekunden“ (Japan 2019) und Dafne (Italien 2019): In beiden Filmen geht es um Inklusion, denn in „37 Sekunden“ emanzipiert sich die an einen Rollstuhl gebundene 23jährige Yuma von ihrer Mutter. Sie hat den Mut, sich von den Fesseln ihrer Mutter zu befreien, sie macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen, zeichnet heimlich Manga Pornos und besucht sogar ihre Schwester in Thailand. Die Mutter ist, als sie die Pornos entdeckt, zunächst völlig sprachlos, aber die beiden finden dann wieder zueinander, indem sie wieder miteinander kommunizieren.

Auch die mit Down-Syndrom geborene 30jährige Dafne ist quirlig, schlau, hat Freude am Leben und hat sogar die Kraft, in ihrem Vater auf einer Reise durch Italien wieder neuen Lebensmut zu wecken, nachdem dessen Frau und ihre Mutter gestorben ist. Beide Beiträge sind sehr berührend, da die Charaktere sehr authentisch sind. Auch in Zeiten des Turbokapitalismus sind Kommunikation und Freude am Leben möglich und die Menschheit sollte ihre Möglichkeiten nutzen, und sich eines Tages von der Geißel des Kapitalismus zu befreien, und zwar weltweit!

Beeindruckend waren u.a. ferner die Filme „Fukuoka“ (Korea 2019), „Bulbul Can Sing“ (Indien 2018), „The Body Remembers When the World Broke Open” (Kanada / Norwegen 2019) und „Öndög“ (Mongolei 2019). Auf diese Beiträge kann aus Platzmangel leider nicht näher eingegangen werden, vielleicht aber in der nächsten Ausgabe der LUPE.  

Kai Jensen