Sind die Forderungen der Occupy-Bewegung richtig?

Am 12. Mai startete in Berlin ein Sternmarsch der Occupy-Bewegung, bei dem mehrere Demonstrationszüge mit insgesamt 3.500 Menschen von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehend  zum Alexanderplatz liefen. Am Neptunbrunnen fand eine Schlusskundgebung statt, bei der viele der teilnehmenden Vereinigungen wie Freidenker (siehe Foto), Berliner Wassertisch, Die Linke und weitere Akteure informierten.

Die 12M-Bewegung (so hat sich im Frühling 2012 die Berliner Occupy-Bewegung genannt) erreicht noch nicht die einst von Rosa Luxemburg geforderte Verbindung von Arbeiterkampf und Massendemonstrationen, aber jeder "Kampf gegen Bürokratie und Verwaltung“ ist letztlich „nichts anderes als der Kampf um Demokratie" (Peter Brückner). Die 12M-Bewegung beschränkt sich jedoch nicht auf radikaldemokratische Besitzstandswahrung à la „Mehr Demokratie wagen“, sondern fordert konkrete Transparenz- und Demokratisierungsschritte.

Sie versuchen ganzheitlich-dialektisch die Zusammenhänge einer möglichen revolutionären Realpolitik in hoch technologisierten Industriestaaten zu erörtern: so gibt es im Manifest der internationalen Occupy-/Indignados-Bewegung, das Global May Manifesto, Ansätze zu einer umfassenden, in der Form volksbewegungs- und sammlungspolitischen und im Inhalt strikt antikapitalistischen Allianz wie man sie beim holistisch-dialektisch argumentierenden Vertreter der Neuen Linken, Peter Brückner, fand: „Wirtschaft [muss] auf allen Ebenen demokratisch gestaltet sein, lokal wie global. Die Menschen müssen die demokratische Kontrolle über finanzielle Institutionen, transnationale Unternehmen und deren Lobbys innehaben.“Dieser wirtschaftsdemokratische, internationalistische und integrative Ansatz ist eine wichtige Forderung, die 12M und Die Linke gemeinsam durchsetzen wollen.

So ist auch diese Bewegung ein möglicher Beginn eines Prozesses des Widerstands gegen Euro-Technokratie und gegen die Politik der verbrannten Erde, welche die BRD im letzten Jahrzehnt umgesetzt hat, indem sie durch Lohn- und Sozialdumping andere EU-Mitgliedsländer niederkonkurrierte und aufgrund der Währungsunion enorme, folgenschwere Handelsbilanzdefizite verursachte.

Im Global May Manifesto heißt es in Anlehnung an die Errungenschaften von zweihundert Jahren Arbeiterbewegung: „Wir leben in einer Welt, die von Kräften kontrolliert ist, welche unfähig (nicht in der Lage) sind, der Weltbevölkerung Freiheit und Würde zu geben (falls sie dies überhaupt jemals waren).“ Auch wird kritisiert, dass diese marktradikale Ideologie verstärkt werde durch das „Monopol der Mainstream-Medien, dem Instrument, welches einen falschen Konsens um dieses unfaire und unhaltbare System erzeugt.“

Dessen ungeachtet bemüht Occupy bislang eine verkürzte Kapitalismuskritik:

1. Die von 12M behauptete moralische Krise des Systems ist ein Trugschluss: Die gegenwärtige Finanzkrise, die selbst nur ein besonders zugespitztes Symptom einer tiefen systemischen Krise ist, sei durch „Habgier“ verursacht. Diese Deutung reduziert den destruktiven Antagonismus des Kapitalismus auf eine vermeintlich moralisch verwerfliche Verhaltensweise einiger Banquiers.

2. Im Manifest steht weiterhin: „Die Wirtschaft muss in den Dienst des Wohlergehens der Menschen gestellt werden, muss der Umwelt dienen und diese unterstützen, nicht den privaten Profit. Wir wollen ein System, in dem Arbeit für ihren sozialen Nutzen gewertschätzt wird, nicht für ihren finanziellen oder kommerziellen Profit.“ Diese Interpretation vereinfacht die Ausbeutungsstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise und verwischt so die Ansatzpunkte für linke Kritik: Der strukturelle Antagonismus des Kapitals wird zu einem institutionellen umgedeutet („Wirtschaft für den Menschen“) - dies ist die traditionell sozialdemokratische Verblendung, welche die sozialen Produktionsbedingungen, das zentrale Objekt der Marxschen Kritik, unangetastet lässt.

Tobias Baumann