Europa – das sind die Gelbwesten
In Frankreich haben in den vergangenen Wochen Hunderttausende gegen die soziale Spaltung in ihrem Land und gegen Präsident Macron, den „Präsidenten der Reichen“, protestiert. Die gelben Warnwesten, die sie dabei trugen, sind in ganz Europa zu einem Symbol für den Widerstand gegen unsoziale Politik geworden. Ein gutes Vorzeichen für die Europawahl im Mai.
Dass in der EU etwas gewaltig schief läuft, sehen wir auch in Tempelhof-Schöneberg. Hunderttausende junge Menschen haben nach der Finanzmarktkrise ihre Länder im Süden Europas verlassen, nachdem diese von der EU mit Kürzungsprogrammen zu Tode „gerettet“ wurden. Viele von ihnen sind in Berlin, nicht wenige in Tempelhof-Schöneberg, angekommen. Diejenigen, die über formale Bildungsabschlüsse und Qualifikationen verfügen, fassen langsam Fuß. Andere EU-Bürger, vor allem aus den neuen südöstlichen Mitgliedsstaaten, haben es schwerer. Sie haben ihre Heimat aus nackter Not verlassen: weil sie zuhause keine wirtschaftliche Perspektive sehen, weil ihre Länder in Korruption versinken, weil sie als Minderheiten an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. Eine desaströse Bilanz von Jahrzehnten EU-Annäherung und EU-Mitgliedschaft.
Die Not dieser Menschen wird hier, mitten unter uns, ausgebeutet: auf dem Straßenstrich, als Tagelöhner auf Baustellen und Schlachthöfen, als organisierte Bettler. Viele leben in bitterster Armut, übernachten in Parks oder in heruntergekommenen Unterkünften, wie vor zwei Jahren im sogenannten „Horrorhaus“ in Schöneberg. Viel zu oft von uns unbemerkt oder einfach übersehen. Sie sind EU-Bürger, Menschen aus dem Staatenverbund, der so viel Reichtum produziert wie keine andere Weltregion – und der nicht in der Lage ist, diesen Reichtum in Wohlstand für alle umzusetzen.
Auch unter den Menschen in Deutschland wächst die Armut, wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer. Die soziale Ungleichheit hat nun wieder das Niveau von 1913 erreicht. In unteren und mittleren Gehaltsgruppen stagniert die Lohnentwicklung, die Spreizung zwischen niedrigen und hohen Gehältern wächst. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht mehr leben und müssen zusätzlich Hartz IV beantragen. Millionen Menschen sind von Altersarmut betroffen oder bedroht.
Wer nicht zu den privilegierten Familien gehört, deren Kinder mit dem Erasmus-Stipendium im Ausland studieren, in den Sommerferien auf große Europa-Tour gehen oder ein freiwilliges soziales Jahr am anderen Ende der Welt verbringen, fragt sich vielleicht, was Europa mit ihm zu tun hat. Die Gelbwesten haben uns die Antwort darauf gegeben: Überall in Europa haben wir mit denselben sozialen Verwerfungen zu tun. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir auch die EU verändern.
Wir brauchen in allen EU-Ländern Mindestlöhne, die vor Armut schützen. In Deutschland wären das mindestens 12 Euro pro Stunde. Wir müssen Lohndumping bekämpfen. Überall muss gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. In allen EU-Staaten muss die Bindung an Tarifverträge gestärkt und Tarifflucht bekämpft werden. Statt EU-weiter Ausschreibungen zum niedrigsten Preis soll die öffentliche Hand wieder qualifiziert ausschreiben können, also mit sozialen und ökologischen Kriterien und unter Bevorzugung regionaler Anbieter.
Wir müssen dort, wo Menschen gegen den Abbau ihrer Rechte kämpfen, grenzüberschreitend solidarisch sein: mit den Arbeitnehmern in Österreich, die gegen den von der Rechtsregierung eingeführten 12-Stunden-Arbeitstag kämpfen, mit den Arbeitnehmern in Ungarn, die gegen die Orban-Regierung auf die Straße gehen, die sie zwingen will, bis zu 400 Überstunden pro Jahr zu akzeptieren und bis zu drei Jahre auf die Bezahlung dafür zu warten. Mit den Mitarbeitern der Billigfluglinien, die von ihren Fluglinien trickreich um gerechte Entlohnung gebracht werden. Mit den Lieferanten, die EU- und weltweit von ihren Lieferservice-Konzernen ausgebeutet werden.
Zeit, sich zu wehren – europaweit, damit wir voneinander lernen können. Wir sollten auch in Deutschland den Impuls aufnehmen, den die Franzosen gesetzt haben. Auch hier brauchen wir mehr Bewegung. Wir sollten den EU-Wahlkampf mit einer Kampagne gegen die soziale Kälte begleiten und zeigen: Wir wollen in einem Europa leben, in dem der gesellschaftliche Reichtum so verteilt ist, dass alle gut und sicher leben können.
Alexander King