Migrantische Linke – richtiges Anliegen mit falschem Ansatz
Diskussionsbeitrag von Alexander King und Martin Rutsch, DIE LINKE Tempelhof-Schöneberg
Der Landesvorstand will aus der der LINKEN Berlin eine migrantische LINKE machen. Das wird, wenn man sich den Landesverband und seine Vertreter/innen in Vorstand, AGH-Fraktion, Senat und Bundestag anschaut, ein gewaltiges Unterfangen. Dabei geht der Landesvorstand von falschen Annahmen aus und schlägt deshalb die falschen Maßnahmen vor.
von Alexander King und Martin Rutsch, DIE LINKE Tempelhof-Schöneberg
1. Gibt es in der LINKEN Diskriminierung von Migranten?
Die ungleiche Verteilung von politischer Teilhabe in Deutschland ist ein gesellschaftlicher Skandal, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen. DIE LINKE steht vor der Aufgabe, verstärkt Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen, die auch, aber nicht nur aufgrund ihres Migrationshintergrundes sozial benachteiligt und an politischer Beteiligung gehindert werden.
Brauchen wir dafür Quoten und eine Antidiskriminierungsstelle, wie im Antrag des Landesvorstands „Für eine migrantische und antirassistische Linke“ gefordert? Oder ganz direkt gefragt: Gibt es in der LINKEN strukturellen Rassismus? Uns sind aus unserem langjährigen Engagement im Berliner Landesverband der LINKEN keine Fälle bekannt, die die Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle notwendig erschienen ließen. Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht über die Polizei oder die Bundeswehr, sondern über unsere Partei DIE LINKE! Dagegen geben unsere Erfahrungen Anlass zur Sorge, dass Rassismusvorwürfe in der Konkurrenz um Positionen und Mandate missbraucht werden können. Dass politische Diskussionen unter dem Damoklesschwert des Rassismusverdachts geführt werden, ist in der LINKEN nicht ganz neu und hat schon zu erheblicher Beschädigung der Debattenkultur beigetragen. Der Vorwurf ersetzt den Diskurs: Wir sollten das nicht noch verschlimmern.
In unserem Bezirksverband spielt es keine Rolle, wo jemand geboren ist, welche Hautfarbe, welches Alter, welches Geschlecht oder welche sexuelle oder religiöse Orientierung er oder sie hat. Alle sind herzlich eingeladen, bei uns mitzumachen und ihre Erfahrungen einzubringen. Wir möchten auch in Zukunft frei und demokratisch entscheiden können, wer uns vertreten soll – bei diesen Entscheidungen sind keine äußeren Merkmale für uns ausschlaggebend, sondern politische Positionen und persönlicher Charakter.
2. Brauchen wir eine Quote für Genossinnen und Genossen mit Migrationshintergrund?
Der Landesvorstand möchte auf dem Parteitag „eine konkrete Zielmarke verabreden, um dem Ziel der Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte mindestens entsprechend dem Berliner Bevölkerungsanteil näher zu kommen, der derzeit bei ca. 35 Prozent liegt. Die Bezirksverbände werden aufgefordert, ebenfalls Zielmarken für die Einbindung von Menschen mit Migrationsgeschichte auf bezirklicher Ebene zu verabreden, die sich an den jeweiligen lokalen Gegebenheiten orientieren.“ Hier fängt der entscheidende Fehler an: Qualitative Veränderungen durch quantitative Größen herbeiführen zu wollen.
Der Landesvorstand übersieht nebenbei, dass unter die 35 Prozent ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen und Perspektiven fallen. Menschen mit türkischem, arabischem oder afrikanischem Migrationshintergrund, die am häufigsten Diskriminierung erfahren, stellen ein Drittel der migrantischen bzw. 10 bis 12 Prozent der Berliner Gesamt-Bevölkerung. Dagegen gibt es auch und gerade in unserem Bezirk viele Menschen mit westeuropäischer oder nordamerikanischer Herkunft. Wir denken da an die Franzosen, Briten, US-Amerikaner, Spanier und andere, die teilweise in unseren Innenstadtbezirken horrende Mieten bezahlen können und zahlungsschwache Vormieter an den Stadtrand verdrängen. Eine 35-Prozent-Quote für Migranten unabhängig von ihrem realen Status und ihrer Lebenslage erscheint uns absurd.
3. Migranten sind keine einheitliche Gruppe
Migranten sind keine homogene Gruppe, nicht in der Gesellschaft und nicht in der Partei. Der Antrag übersieht diese Tatsache. Nicht alle Menschen mit Migrationshintergrund sind für DIE LINKE oder überhaupt für eine deutsche Partei zu gewinnen. Es gibt leider auch unter Migranten Menschen, die Vorurteile gegenüber anderen ethnischen Gruppen, gegenüber LGTBIQ, gegenüber emanzipierten Frauen oder Atheist/innen haben.
Werden Migranten in der Linken systematisch daran gehindert, in einflussreiche Positionen zu gelangen? Nein. Genossinnen und Genossen mit Migrationshintergrund stehen seit Jahren für DIE LINKE in der Öffentlichkeit, nicht selten in herausgehobener Position: Sahra Wagenknecht, Sevim Dagdelen, Amira Mohamed Ali, Fabio de Masi, Andrej Hunko, Zaklin Nastic, Ali Al Dailami, um nur einige zu nennen. Uns ist nicht bekannt, dass ihr Aufstieg gerade von denjenigen gefördert worden wäre, die sich hier für eine "migrantische LINKE" aussprechen. Das Anliegen des Antrags ist eher strömungspolitischer Natur und das wirft Probleme auf.
Längst nicht alle Menschen mit Migrationshintergrund sind begeistert davon, dass ihre Herkunft plötzlich ihr interessantestes Merkmal sein soll: Sie wollen nicht darauf reduziert werden, manche würden sich sogar weigern, aufgrund dieses Hintergrunds einen Quotenplatz in Anspruch zu nehmen. Auch zur Frage der „Zusammenarbeit mit migrantischen Vereinen“ oder Nutzung „migrantischer Räume“, die der Landesvorstand empfiehlt, gibt es erhebliche Differenzen innerhalb der LINKEN sowie zwischen säkular orientierten und religiösen Migranten, etwa was die Zusammenarbeit mit Moscheeverbänden und vergleichbaren Institutionen angeht.
4. Was ist das Problem?
Migranten sind, genau wie Nicht-Migranten: Arbeiter, Angestellte, Rentner, Erwerbslose, kleine Gewerbetreibende, Solo-Selbständige usw. Sie haben Abitur und Studienabschluss, verfügen über Wohneigentum und andere Vermögen – oder eben nicht. Diese Faktoren bestimmen wesentlich mit, wie stark sie sich in Parteipolitik einbringen können. Doch leider blendet der Landesvorstand diese Dimension völlig aus. Alle Parteien, insbesondere die Parteien im Mitte-Links-Spektrum, erfahren seit Jahren eine zunehmende Akademisierung. Junge Leute aus der Mittelschicht mit hohen Bildungsabschlüssen und guten Berufsaussichten strömen in diese Parteien, auch in DIE LINKE. Menschen ohne akademische Weihen fühlen sich oft ausgegrenzt, überfordert, bleiben fern. Jeder weiß, dass unter Arbeitern und Nicht-Akademikern der Migrationsanteil besonders hoch ist, was ein gesellschaftliches Problem ist. Eine LINKE, die sich erkennbar den urbanen Mittelschichten zuwendet und ihre Themen anspricht, während sie Menschen ohne höhere Bildung vor allem belehrend gegenübertritt, ist nicht attraktiv für Migranten aus der Arbeiterschicht. In diesem Sinne ist es ein Trugschluss des Antrags, mit einer Quote sei hier Veränderung herbeizuführen. Entscheidend ist die klare soziale Interessenvertretung.
5. Und was ist zu tun?
Es stimmt: DIE LINKE und insbesondere der Landesverband Berlin entsprechen in der Zusammensetzung von aktiver Mitgliedschaft, Vorständen und Fraktionen nicht dem Bevölkerungsschnitt. Noch schlimmer: Gerade die Menschen, für deren Interessen sich DIE LINKE einst gegründet hat (Arbeiter und Angestellte mit schwierigen Arbeitsbedingungen, Rentnerinnen und Rentner, Erwerbslose), sind stark – und zunehmend! – unterrepräsentiert. Das betrifft zwangsläufig auch die migrantische Bevölkerung. Wir brauchen deshalb keine Quoten für Migranten, sondern eine politische Ansprache und Praxis, mit der wir Arbeiter, Nicht-Akademiker und Sorge-Verantwortliche erreichen. Ihnen müssen wir Gehör verschaffen. Durch kontinuierliche Arbeit auch und gerade in ärmeren Vierteln und sozialen Brennpunkten können wir das Vertrauen der dort lebenden Menschen (zurück)gewinnen. Darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, dass sich diese Menschen wieder der LINKEN zuwenden und sogar Lust bekommen, sich in der LINKEN zu engagieren, das wäre jede Anstrengung wert. Dazu sollte der Landesvorstand eine breit angelegte Debatte in den Basisstrukturen unseres Landesverbands anregen: Gemeinsam und nicht gegeneinander.