Was braucht DIE LINKE? Solidarische Debatte, politische Führung und strategische Orientierung

Redebeitrag des Bezirksvorsitzenden, Alexander King:

DIE LINKE Tempelhof-Schöneberg diskutierte der Mitgliederversammlung am 10. September über ihre Erwartungen an den Bundesparteitag. Hier der Redebeitrag des Bezirksvorsitzenden, Alexander King: 

Was braucht DIE LINKE? Solidarische Debatte, politische Führung und strategische Orientierung

Liebe Genossinnen und Genossen,

am 30. Januar – vor mehr als 7 Monaten – haben wir unsere letzte Mitgliederversammlung abgehalten. Die Zeit dazwischen war für uns alle herausfordernd.

Wir haben nach Wegen gesucht, trotz Corona-Auflagen zusammenzukommen, mal online, mal open-air, mal mit wenigen Leuten in riesigen Sälen. Wir haben dar-über diskutiert, wie wir das Bedürfnis nach Begegnung und das Bedürfnis nach Sicherheit gut ausbalancieren. Das ist mal besser und mal weniger gut gelungen. Irgendjemand war immer unzufrieden.

Wir haben auch darüber diskutiert, wie wir die Infektionsschutzmaßnahmen bewerten, wie die Politik des Berliner Senats, wie die Rolle der LINKEN. Und auch hier trafen sehr unterschiedliche Sichtweisen aufeinander.

Und jetzt diskutieren viele, wie DIE LINKE mit der Corona-Kritik umgehen soll, welche Punkte wir aufgreifen und verstärken wollen und welche Grenzen wir ziehen.

Wir haben in den letzten Monaten viel gelernt über Viren, Ansteckungswege, Infektionsschutz, aber auch über Demokratie, Grundrechte und ihre Grenzen. Es war eine besondere Zeit.

Es gab dabei unheimlich schöne, solidarische Momente: Ich werde sicher nie vergessen, wie überwältigend eure Reaktion auf meinen Aufruf zu Beginn des Lock-downs war, ein Soli-Netz gegenseitiger Hilfe aufzubauen. So viele Unterstützer haben sich gemeldet, dass die meisten gar nicht zum Einsatz kamen. Einige aber schon: Sie haben sich rührend um hilfsbedürftige Genossinnen und Genossen gekümmert. Dafür herzlichen Dank!

Toll waren auch die Reaktionen auf die Spendenaktionen, die wir für soziale Projekte im Bezirk gestartet haben: etwa für die Lichtenrader Suppenküche oder Hydra, und die Hausaufgabenhilfe für geflüchtete Kinder in Marienfelde. Herzlichen Dank an alle, die gespendet und geholfen haben!

Es war aber auch eine Zeit der Spaltung. Viele Diskussionen wurden, auch in der LINKEN, sehr emotional geführt. Wir haben Genossen verloren, die ausgetreten sind, täglich sprechen uns Leute an, die unsere Haltung von der einen oder anderen Seite scharf kritisieren.

Auch in dieser Runde sitzen Genossen, die ganz unterschiedlich über Corona und die Maßnahmen denken. Und ich bin froh, dass wir uns bislang überwiegend konstruktiv auseinandergesetzt haben. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit.

Ich sage ganz ehrlich: Ich persönlich halte die Maskenpflicht für sinnvoll. Ich war von Anfang an dafür. Ich habe auch die strengen Kontaktbeschränkungen zu Beginn der Pandemie unterstützt. Ich gehe auch heute noch davon aus, dass sie wesentlich zur Eingrenzung des Schadens beigetragen haben.

Aber ich stelle fest und akzeptiere selbstverständlich, dass es viele Genossen gibt, die das viel kritischer sehen. Ich wünsche mir, dass es möglich ist, auch diese Fragen solidarisch und eben nicht spaltend zu debattieren. Eine solche Diskussionskultur wünsche ich mir für DIE LINKE.

Und da bin ich auch schon beim Thema Bundespartei-tag Ende Oktober in Erfurt. Was erwarte ich, was wünsche ich mir vom Parteitag?

Erstens: Ein Ende des unproduktiven Streits der letzten Jahre, der uns sehr geschadet hat, und die Rückkehr zu einer offenen und zugleich solidarischen Debatten-Kultur. Die Unerbittlichkeit in der Corona-Debatte entspricht einem allgemeinen Trend, leider auch im linken Spektrum. Widersprüche werden nicht mehr als Herausforderung wahrgenommen, sondern als Zumutung.

Andere Meinungen werden nicht mehr gehört und gegen die eigene abgewogen. Sachdebatten werden moralisch aufgeladen. Immer häufiger heißt das: wir, die Guten, gegen die, die Bösen. Argumente zählen dann nicht mehr.

Auch Debatten in der LINKEN laufen häufig so ab, ich erinnere an den Parteitag in Leipzig vor zwei Jahren, für mich der Tiefpunkt meiner mehr als 20-jährigen Mitgliedschaft in dieser Partei. Glaubenssätze statt Diskussion, ewige Wahrheiten statt Dialektik, Religion statt Politik. Haltung zeigen und sauber bleiben, statt um Argumente ringen.

Wir brauchen wieder eine offene Debattenkultur, Streit, Interesse aneinander. Das wäre eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf im nächsten Jahr.

Zweitens: Politische und strategische Orientierung. Das hat der LINKEN in den letzten Jahren gefehlt. DIE LINKE ist in immer weitere Gruppen auseinander gefallen. Pluralismus ist wichtig, aber wir brauchen auch eine gemeinsame Vorstellung davon, wo es hin gehen soll.

Auf dem Bundesparteitag wählen wir neue Vorsitzende. Ich finde es wichtig, dass wir Vorsitzende bekommen, die der LINKEN politische Führung, strategische Orientierung geben. Vorsitzende, die die Mitglieder hinter sich versammeln.

Die große Überzeugungs- und Strahlkraft haben oder so bescheiden und klug sind, diejenigen Genossinnen und Genossen, die eine solche Strahlkraft haben, gut zur Geltung zu bringen.

Politik wird von Menschen mit Menschen für Menschen gemacht. Programme können noch so schlau formuliert sein. Wirkung entfalten sie erst, wenn sie von Politikern vorgetragen werden, die von den Wählern als glaubwürdig und sympathisch empfunden werden.

DIE LINKE hat immer wieder Politiker hervorgebracht, die bei den Leuten gut ankommen. DIE LINKE muss ihre herausragenden Leute unterstützen und in der Kommunikation mit den Wählern einsetzen. Das kann überlebenswichtig sein mit Blick auf das Wahljahr 2021.

Drittens: Zur strategischen Orientierung gehört auch ein vernünftiger Umgang mit der Frage nach der Rolle der LINKEN in dieser Gesellschaft.

DIE LINKE muss wissen, was sie erreichen will – in der Opposition oder eben in der Regierung. Was wäre der konkrete Mehrwert einer Regierungspartei? Das ist mindestens so wichtig wie die Frage, was wir nicht wollen.

Deutschland braucht andere politische Mehrheiten. Ich fände es gut, wenn DIE LINKE in Deutschland regiert. Voraussetzung wäre, so stark zu werden, dass wir in einer Regierung auch wirklich etwas verändern können. In der jetzigen Situation – mit 7% und meilenweit entfernt von Mehrheiten jenseits der Union – macht es wenig Sinn, Koalitionsverhandlungen zu simulieren.

Ich finde es gut, dass die Mitgliedschaft schnell reagiert hat, als der Eindruck entstand, einzelne Politiker wollten wichtige Positionen der LINKEN zur Disposition stellen. Grüne und SPD sind ja bislang auch noch nicht auf die Idee gekommen, uns irgendetwas anzubieten.

Ich haben den Eindruck, dass die Botschaft der Basis angekommen ist und wir solche Konstellationsdebatten nicht mehr führen werden.

Unser Beitrag dazu, eine Mehrheit für soziale und friedliche Politik herbeizuführen, kann doch nur sein: unsere Positionen so stark wie möglich zu machen, so viele Wähler wie möglich dahinter zu versammeln.

Und da komme ich zu viertens: Wir müssen uns auf dem Parteitag die richtigen Fragen stellen: Warum kommt ein Handwerker, eine Verkäuferin, ein Rentner kaum auf die Idee, DIE LINKE zu wählen?

Warum ziehen auch immer weniger Erwerbslose und prekär Beschäftigte das in Erwägung? Vor ein paar Tagen ist die bekannte Hartz IV Aktivistin Inge Hannemann aus der LINKEN ausgetreten. Das muss uns doch zu denken geben.

DIE LINKE muss eine Ansprache finden, mit der sie die Menschen erreicht, für deren Interessen sich DIE LINKE einst gegründet hat: abhängig Beschäftigte und ihre Familien, Erwerbslose, Rentner.

DIE LINKE hatte sie zuletzt jedoch kaum noch erreicht, wie an der abnehmenden Zustimmung in der entsprechenden Alterskohorte abgelesen werden kann.

Ich glaube, da hilft es uns nicht, wenn wir abstrakt die „Systemfrage“ in den Raum stellen, vollmundig „Umverteilung“ oder gar „Verstaatlichung“ ankündigen. Unsere Reden werden immer revolutionärer – aber ist das auch immer unterfüttert? Wir haben das auch auf dem Landesparteitag erlebt.

Ich hätte da gerne auf die eine oder andere Floskel à la „wir müssen den Kapitalismus überwinden“ verzichtet, wenn es dafür eine klare Beschlussfassung zum Stopp der S-Bahn-Ausschreibung gegeben hätte.

Ein guter Kompass für die Tauglichkeit linker Vorschläge ist eigentlich immer, sich zu fragen, wer hinterher mehr und wer weniger Geld im Portmonee hat. Wenn man diese Messlatte anlegt, merkt man ganz schnell, wie sich vermeintlich pfiffige Ideen als neoliberaler Käse herausstellen, z.B., um einen aktuellen Bezug herzustellen, in der Klima- und Verkehrspolitik.

Fünftens: DIE LINKE muss Motor der gesellschaftlichen Modernisierung sein, wenn es darum geht, Rassismus, Nationalismus und andere Borniertheit zu überwinden und Gleichstellung zu befördern. Hier gibt es sehr positive Entwicklungen in Deutschland, an die wir anknüpfen können und die wir verstärken müssen:

Die große Solidarität in Deutschland mit der US-Bewegung Black Lives Matter macht Mut. Wir müssen diese Stimmung jetzt auch nutzen, um offensiv die Aufnahme der geflüchteten Menschen von Moria in Deutschland zu fordern, die gerade zum zweiten Mal alles verloren haben. Die Linksfraktion bringt dazu morgen einen Antrag in den Bundestag ein.

Sechstens muss DIE LINKE ihr friedenspolitisches Profil als Alleinstellungsmerkmal schärfen. Dazu liegen euch Anträge vor, über die wir nachher noch diskutieren.

Abschließend: DIE LINKE muss Mitgliederpartei bleiben, getragen vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder, also von euch, von uns allen.

Und es muss wieder Spaß machen, inhaltlichen Streit zu führen – und anschließend wieder zusammen für die gemeinsame Sache zu kämpfen. So wie wir das in Tempelhof-Schöneberg auch machen.

In diesem Sinne wünsche ich uns heute eine angeregte und solidarische Diskussion.